J. Luh u.a. (Hgg.): Preussen, Deutschland und Europa 1701-2001

Cover
Titel
Preussen, Deutschland und Europa 1701-2001.


Herausgeber
Luh, Jürgen; Czech, Vinzenz; Becker, Bert
Reihe
Baltic Studies 8
Anzahl Seiten
570 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ewald Frie, Fachgruppe Geschichte, Universität Essen

"Preußen darf nicht für sich allein, sondern sollte im deutschen und darüber hinaus europäischen Kontext betrachtet werden. Dann erweist sich nämlich schnell, daß vorgeblich typisch ‚preußische’ oder später ‚preußisch-deutsche’ Phänomene keineswegs immer einzigartig waren.“ Dieses Programm umreißt Jürgen Luh in seinen „Bemerkungen zum Preußenbild“ (S. 1-12, Zitat S. 11), die einem Sammelband mit 27 Aufsätzen bzw. Essays vorangestellt sind. „Preussen, Deutschland und Europa 1701-2001“ dokumentiert im Wesentlichen die Vorträge einer gleichnamigen Tagung, die gemeinsam vom Instituut voor Noord- en Oosteuropese Studies Groningen, vom Bildungswerk Potsdam der Konrad-Adenauer-Stiftung und vom Lehrstuhl für brandenburgisch-preußische Landesgeschichte der Universität Potsdam veranstaltet wurde.

Merkwürdigerweise folgen auf die programmatischen Einleitungsaussagen Luhs, die aus einer knappen Skizze der Forschungsgeschichte mit den Stationen Borussianismus, Antiborussianismus nach 1945, Ambivalenz seit 1980 und regionen- und nationenvergleichende Öffnung der jüngsten Zeit hervorgehen, zwei völlig preußenzentrierte Artikel. Gerd Heinrich erzählt von „Tugenden und Untugenden in Preußen“ (S. 15-35). Oliver Hermann paraphrasiert die von Friedrich II. verfassten „Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Hauses Brandenburg“, um damit den Vorbildern des dritten Preußenkönigs auf die Spur zu kommen (S. 36-42). Dann aber weitet sich der Blick wirklich. Vier Kapitel widmen sich den Beziehungen Preußens zu anderen Mächten. Frank Göse, Vinzenz Czech und Michael Kaiser tragen Aspekte zum Thema „Nachbarn im Reich“ (S. 43-127) bei. Horst Lademacher, Joop Koopmans, Bert Becker und Carel Hostmeier behandeln Stücke des Themas „Preußen und die Niederlande“ (S. 129-194). Das Kapitel „Preußen und England“ (S. 195-250) bestreiten Frank Lorenz Müller, Andreas Rose und Dominik Geppert. Unter der bunten Abteilung „Preußen, Deutschland und die kontinentalen Mächte“ (S. 427-559) finden sich am Ende des Buches Artikel von Wolf D. Gruner, Hans van Koeningsbrugge, Jürgen Angelow, Ricarda Vulpius, Patricia Clavin, Andreas Vuckovic und Stephan Wernicke rubriziert. Dazwischen liegen zwei nicht regional, sondern thematisch-sektoral überschriebene Kapitel. Peter-Michael Hahn, Andreas Pecar, Holger Kürbis, Agnieszka Zablocka-Kos und Lothar Mertens behandeln den „Kulturaustausch“ (S. 251-351). Peter H. Wilson, Daniel Hohrath und Max Plassmann untersuchen „Militärische Fragen“ (353-426).

Die vielen „Preußen und …“-Artikel fügen sich nicht zu einem Gesamtbild. Dafür sind sie in Gegenstand, Fragestellung, Umfang und Qualität zu unterschiedlich. Die Herausgeber ziehen auch keine Summe des Erreichten. Die von ihnen ausgerufene Suche nach dem Besonderen Preußens im zeittypisch Allgemeinen führt am ehesten im 18. Jahrhundert zum Erfolg. Hier sind in den 1990er-Jahren eine vergleichende Militär-, eine vergleichende Kultur- und eine vergleichende Regionalgeschichte weit vorangekommen. Autoren, die an diesen Unternehmungen beteiligt waren, die einerseits mitten in Quellen und Literatur zu sitzen scheinen und andererseits doch den Überblick behalten, liefern die beeindruckendsten Beiträge des Bandes. Frank Göse untersucht „die kursächsische Sicht auf Preußen im ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert“ (S. 45-78). Er schreitet politische, wirtschaftliche und konfessionelle Beziehungsfelder ab und fragt zum Schluss nach den Wahrnehmungen der Bevölkerung. Indem Traditionen und Interessen beider Seiten eigenständig gewichtet werden, entfallen die Grundlagen für die moralisch eingefärbten Werturteile des Borussianismus wie des Antiborussianismus. Stattdessen tritt die Dramatik des mittleren Drittels des 18. Jahrhunderts deutlich hervor.

Peter-Michael Hahn untersucht „Hofhaltung und Kulturtransfer nach Berlin-Cölln und Potsdam bis 1740“ (S. 253-279). Am Hof der Hohenzollern entwickelte sich bis in das 18. Jahrhundert hinein „zumindest in materieller Hinsicht kein repräsentativer Stil mit einer eigenen Spezifik“ (S. 267). Auch die großen Anstrengungen des ersten Preußenkönigs Friedrichs blieben Episode. Sein Nachfolger, der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I., brach mit der barocken Prachtentfaltung nicht nur aufgrund religiösen Überzeugungen und charakterlicher Eigenheiten. Weil ein finanzkräftiger Adel fehlte, der einen preußischen Stil hätte verstetigen können, wurden, so Hahn, „die sozialen Kosten einer solchen Politik von seiten der preußischen Monarchie als zu hoch und die Erfolgsaussichten als wohl zu gering bewertet […] Jenseits des Hofes fehlten alle gesellschaftlichen Voraussetzungen, um die von dort ausgehenden Anregungen zumindest in die Kultur der städtischen und ländlichen Eliten aufzunehmen“ (S. 278). Was seit Moeller van den Bruck 1916 als „Der preußische Stil“ bezeichnet wird, findet in der Kulturgeschichte Preußens vor 1740 keinen Anhalt, sondern geht eher auf „die tagespolitischen Ambitionen der Autoren“ (S. 279, Anm. 72) zurück.

Peter H. Wilson fasst die Ergebnisse der militärgeschichtlichen Forschungen des letzten Jahrzehnts zusammen (S. 355-384). Eine genaue Analyse der Funktionsweise des Kantonssystems sowie regionale und interstaatliche Vergleiche haben die über Jahrzehnte dominierende Vorstellung einer sozialen Militarisierung Preußens im 18. Jahrhundert beiseite geschoben. Das aber hat Konsequenzen für die Geschichte des 19. Jahrhunderts. Sowohl der Borussianismus als auch der Antiborussianismus haben die preußisch-deutsche Geschichte des späten 19. Jahrhunderts legitimatorisch bzw. anklagend ins 18. Jahrhundert zurück verlängert. Werden diese Konstruktionen erschüttert, so tritt das 19. Jahrhundert als strukturprägendes Zeitalter aus eigenem Recht nicht nur für den Gegenstandsbereich Militär deutlich hervor.

Dieses neue Bild des 19. Jahrhunderts ergibt sich allerdings aus den anderen Beiträgen nicht. Das mag an den Themen liegen, die vom Detail aus den Blick auf das Ganze nicht freigeben. Vielleicht sind auch im 19. Jahrhundert die kulturellen, mentalen und regionalen Grenzen Preußens und dann Preußen-Deutschlands zu ungenau markiert und zu häufigen Änderungen unterworfen, als dass sie sich revisionistisch attackieren ließen. Bei manchen Erkenntnissen im Einzelnen – vor allem die auf England bezogenen Beiträge und hier insbesondere Frank Lorenz Müllers Ausführungen über „Preußen als Hoffnungsträger britischer Reformvorstellungen für Deutschland 1830-1863 (S. 197-215) ragen heraus – bleiben für das 19. wie für das 20. Jahrhundert nach der Lektüre des Bandes eher diffuse Eindrücke als ein Bild. Das moderne Preußen mit seiner Wandlungsfähigkeit und mit seiner Vielfalt auf der Höhe der Detailforschung auf den Begriff zu bringen, das ist eine der schwierigsten Aufgaben der Preußenforschung.